Gerty Spiess

geboren am 13.1.1887 in Tier

gestorben am 10.10.1997 in München

jüdischen Glaubens

Schriftstellerin in Trier und München

KZ Theresienstadt

Ich bin am 13. Januar 1897 in Trier geboren, wo ich auch meine Jugend verbrachte. Väterlicher- wie mütterlicherseits entstamme ich alteingesessenen jüdischen Familien, die schon vor weit zurückliegenden Jahrhunderten ins Rheinland eingewandert waren. Mein Vater war Kaufmann, ein allseits bekannter Trierer Mundart-Dichter und höchst angesehener Bürger, meine Mutter von jung auf Krankenschwester und Operations-Assistentin. Mein Bruder, eineinhalb Jahre älter als ich, hochbegabt - er wollte Maler werden - fiel im ersten Weltkrieg mit 23 Jahren als Reserve-Offizier an der Westfront, der erste unüberwindbare Schmerz nach einer sehr glücklichen Jugend.

Ich besuchte das Auguste-Viktoria-Lyzeum in Trier, war ein sehr verträumtes, etwas weltfremdes Kind und begann schon als kleines Mädchen meine ersten Gedichte zu schreiben. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch, Französisch, Singen, Malen, Schriftzeichnen, Rezitation, eine vom Vater ererbte Gabe. Unter dem Pult lag während des Unterrichts immer ein Buch auf meinem Schoß, darin ich nebenher zu lesen pflegte. Anschließend ans Lyzeum besuchte ich die "Frauenschule" zur Weiterbildung.

In diesem Jahr brach der Erste Weltkrieg aus, für mich unfassbar unter dem damals so genannten "Friedenskaiser". Im Volk herrschte allgemeine Begeisterung. Mein Bruder meldete sich - wie seine Klassenkameraden – freiwillig bei der Armee. Fast alle fielen gleich im ersten Jahr. Ich bestand das Staatsexamen als Hauswirtschaftslehrerin. Dann besuchte ich das Fröbelseminar in Frankfurt a. M., bestand das Staatsexamen als Hortnerin und wollte weiterlernen, um Jugendleiterin zu werden. Doch da ereilte uns die Mitteilung, dass mein Bruder am 15. September 1918 in Frankreich gefallen war. Ich war allein im Haus, als die Nachricht kam und musste es meinen Eltern berichten. Von nun an zeigte das Leben ein anderes, ein ernstes Gesicht.

Ich gab meinen Berufsplan auf und blieb vorläufig bei den Eltern. Kurz darauf ging der Krieg zu Ende. Der Kaiser war geflohen, Bürgerkrieg tobte in den Städten, Verwirrung, Streit und Ratlosigkeit. Hunger und Not griffen um sich. Besonders die Jugend wurde von der Grippeepidemie befallen. Viele junge Menschen, durch Unterernährung geschwächt, starben an der Seuche. Ich lag schwer krank lange Zeit im Bett mit hohem Fieber. Allgemeine Armut folgte dem verlorenen Krieg. Das Geld verlor seinen Wert. Die alten Menschen, die für ihre letzten Tage gespart hatten, waren nun bettelarm.

Ich wurde zur Zwangsarbeit herangezogen. Wir wurden - sechs Jüdinnen an den Bruckmann-Verlag überwiesen, wurden dort sehr gut und menschlich behandelt. Den weiten Weg mussten wir täglich zu Fuß bewältigen, weil Trambahnfahren uns verboten war. Die Arbeit war recht anstrengend, aber wir waren so dankbar, weil man uns hier in Ruhe arbeiten ließ. Doch es war nur eine kurze Freude, weil ich am 17. Juli 1942 den Befehl erhielt, mich auf einen Transport vorzubereiten. Ich musste Ruth allein zurücklassen. Ein paar Tage später wurde ich mit anderen jüdischen Menschen, die ich nicht kannte, am Bahnhof in einem Zug zusammengeworfen und kam zwei Tage später bei Regenwetter in Bauschowitz (Tschechoslowakei)

an. Von dort mussten wir zu Fuß nach Theresienstadt gehen. Dabei wurde unser dürftiges Gepäck uns gestohlen. In Theresienstadt wurden wir in einer Scheune - ohne Möbel, ohne Ofen oder Herd - untergebracht und schliefen, Männer und Frauen bunt durcheinander liegend, auf dem nackten Fußboden. Gleich am Anfang schon starben einige Ankömmlinge am Hunger, an den Strapazen und am völligen Medikamentenmangel. Nach kurzer Zeit mussten wir eine Arbeit antreten. Ich entschloss mich, in der Glimmerspalterei zu arbeiten, wo ich bis kurz vor dem Ende der Leidenszeit mit wenigen Unterbrechungen weiterdiente. Lange Zeit durften wir außerhalb der Arbeitsstunden nicht unbewacht und allein auf die Straße gehen. Das wurde mit der Zeit besser, weil unsre Peiniger aus Theresienstadt ein Musterlager entwickelten, um Kontrollen aus anderen Ländern, z. B. das Rote Kreuz und ähnliches auf diese Weise zu täuschen, was ihnen leider auch gelang. Nacht für Nacht verbrachte ich mit Weinen vor Heimweh und Sorge um meine Tochter.

Nach und nach wurden wir aus der Scheune in kleinere Räume verteilt. Ich schlief mit zwei anderen Frauen halb unter der Erde in einer winzigen alten Waschküche. Hier überstand ich auch eine Lungenentzündung, behandelt und geheilt von Dr. Rüben, einem Berliner Arzt, den die Nazis einige Zeit später in den Tod von Auschwitz schickten. Ich lernte in Theresienstadt viele großartige Menschen kennen, Arzte, Musiker, Dichter, Schauspieler, Wissenschaftler, Großkaufleute, Lehrer, Schriftsteller und andere mehr.

Daß ich zu dem einen Prozent der Überlebenden gehöre, verdanke ich dem unwiderstehlichen inneren Drang, alle die vielen großen wie kleinen inneren Erlebnisse und Beobachtungen, Heimweh wie auch Naturerlebnisse, Gottesnähe, nächtlicher Anblick des Universums, des Sternenhimmels in Gedichtform festzuhalten. Manche Nacht habe ich schlaflos verbracht, um diesen inneren Auftrag auszuführen. Ich vergaß Hunger, Armut, Heimweh und vieles andere über diesem Schaffensdrang. Das hat mir das Leben gerettet.

Die langersehnte, endliche Befreiung war ein unsagbar beglückendes, die Rückkehr nach München nach dreijähriger Haft im Frühsommer 1945 ein grauenvoll bestürzendes Erlebnis. Zerschmetterte Häuser und Kirchen, gähnende Erdlöcher, Schutthügel!

Quelle: Gerty Spies: Des Unschuldigen Schuld, Mainz 1997, S. 7 und 10
Stattführer Trier im Nationalsozialismus, 3. Auflage, Trier 2005;
Trierer biographisches Lexikon