Miriam Neumeier

Miriam Neumeier, geb. Amalie Berlinger,

1916 geboren

Tochter des jüdischen Lehrers Moses Berlinger aus Trier

Besuch des AVG in Trier bis 1934

Flucht nach Israel

Lebt heute in Petach Tikva


Miriam Neumeier rechts neben ihrem Vater und Lehrer

Willi Körtels: „Ich wollte kein Wort mehr Deutsch reden“ Miriam Neumeier alias Amalie Berlinger erinnert sich

„Ich wollte kein Wort mehr Deutsch reden, als der Krieg kam und die Verbrechen an den Juden bekannt wurden.“ Diese Worte drücken den Vorsatz von Miriam Neumeier aus Israel vor über siebzig Jahren aus.

Ihr Elternhaus stand in der Gilbertstraße in Trier unweit des alten jüdischen Friedhofs an der Weidegasse. Die ersten vier Schuljahre habe sie die jüdische Elementarschule besucht, die ihr Vater leitete. Von 1926 bis 1934 sei sie Schülerin des AVG in Trier gewesen, an dem damals fast alle jüdischen Mädchen, die eine weiterführende Schule besuchten, angemeldet waren. Sie habe an einem Sonderprojekt „Französisch“ am AVG in Trier teilgenommen, das bedeutete, dass ab der Untertertia nach dem Lehrplan des Realgymnasiums unterrichtet wurde. Insgesamt habe sie neun Jahre Französisch-Unterricht erfahren. Es sei so hart zensiert worden, dass in der Unterprima nur noch vier Schülerinnen übrig waren. Sie habe sehr gut Französisch beherrscht. Vier Jahre habe sie Englisch-Unterricht gehabt und acht Jahre Latein. Sie zitiert aus dem Kopf ganze Passagen aus De bello gallico von Julius Cäsar. Sie habe die Naturwissenschaften geliebt. Sie hätte Medizin studieren wollen. Aber es sei ihr nicht mehr möglich gewesen bis zum Abschluss in die Schule zu gehen, sie habe es nicht mehr ausgehalten, die kleinen Schikanen, den Verlust von Freunden. Von einem Tag auf den anderen sei ihre Englisch-Lehrerin verschwunden. Am AVG hätte ein katholischer Geistlicher unterrichtet, der vorher jüdisch gewesen war: Prof. Kohn. Ihr Vater habe einen guten Freund gehabt, der wie er auch Lehrer war. Er sei katholisch gewesen. Seine Frau und seine Tochter aber seien von Hitler begeistert gewesen, er sei ihr Führer, hätten sie nach 1933 gesagt. An ihm hätten sie sich orientiert, die Freundschaft zu ihr aufgegeben, wie es der Wunsch des Führers gewesen war. Eine Karte hätte ihre Familie erhalten mit den ironischen Wünschen: Alles Gute Eure Freunde. Nicht aus Trier sei diese Karte abgesandt worden, sondern von einem anderen Ort aus.

1933 sei sie 17 gewesen. Ausgegrenzt hätte sie sich gefühlt, sie sei nicht geschlagen worden, aber gemieden, selbst von den langjährigen Klassenkameradinnen. Wie könne eine ganze Nation nur solchen Leitlinien folgen. Mit Werten habe das nichts zu tun, eher mit Umwertung aller humanen Gepflogenheiten. Sie könne das nicht verstehen, bis heute nicht.

Die eigene Familie wäre überzeugt deutsch gewesen, sie habe mitgefeiert, als 1929 die französische Besatzung beendet wurde. Ihr Vater, der angesehene jüdische Lehrer, habe freiwillig im Ersten Weltkrieg nach seinem eigenen Schuldienst in den Nachbarorten zusätzlich unterrichtet, als die christlichen Lehrer in den Krieg eingezogen worden waren. Der eigene Vater habe an einen Sieg der deutschen Truppen geglaubt. Die Engpässe in der Versorgung durch den Krieg habe man am eigenen Leib erfahren müssen, diese wie die übrigen Bürger hingenommen. Unter der Bombardierung von Trier habe man ebenso gelitten. Ihr Vater hätte das Zentrum gewählt, weil er von der toleranten Haltung Juden gegenüber des aus Trier stammenden Prälaten Kaas, des Vorsitzenden der katholischen Zentrums-Partei, überzeugt gewesen sei.

Ihr Familienname Berlinger sei zu verbinden mit Götz von Berlichingen. Das Stammhaus der Berlingers habe in der Nähe des Anwesens von Götz von Berlichingen gestanden. Man sei viele Jahrhunderte mit der deutschen Kultur eng verbunden gewesen, vielleicht mehr als die an die Nazis Angepassten.

Bis 1933 sei sie Pfadfinderin gewesen, sie habe die deutschen Volkslieder damals mit Begeisterung mitgesungen, z.B. Der mächtigste König im Luftrevier.

Der mächtigste König im Luftrevier
Ist des Sturmes gewaltiger Aar.
Die Vöglein erzittern, vernehmen sie nur
Sein rauschendes Flügelpaar.
Wenn der Löwe in der Wüste brüllt,
Dann erzittert das tierische Heer.
Ja, wir sind die Herren der Welt
Die Könige auf dem Meer.

Mit den Werken von Dostojewski und Tolstoi habe sie damals nichts angefangen.

Nach der Machtergreifung durch Hitler sei sie aus dem Pfadfinderverein ausgeschlossen worden, weil sie jüdisch war. Doch die jüdischen Mädchen hätten sich zusammen getan, um an der Mosel entlang bis nach Wasserbillig zu wandern oder an der unteren Saar. Fern von Trier habe man in Saar und Mosel geschwommen, welches in Trier verboten gewesen war, aber außerhalb von Trier, wo sie niemand kannte, wäre es kein Problem gewesen. Die Saar habe eine starke Strömung gehabt. Man habe in Wasserbillig auch Luxemburger Boden betreten, dort Kaffee getrunken, bevor man sich wieder auf den Heimweg machte. Die Mosel sei damals recht verlandet gewesen, noch nicht kanalisiert und mit Hilfe von Staustufen schiffbar gemacht.

Bevor sie nach Israel, was damals Palästina hieß, ausgewandert, besser sei das Wort geflohen, sei, habe sie in Geringshof bei Fulda an einer Haschara-Ausbildung als Vorbereitung auf das Leben in Israel teilgenommen. Sie hätte sich der zionistischen Bewegung angeschlossen. Sie hätte in einem Kibbutz gearbeitet, wo sie ihren späteren Ehemann kennen gelernt habe. Sie habe auch in der Haganah, einer Widerstandsorganisation, Dienst getan. Sie habe es schwer gehabt, es sei kein Geld vorhanden gewesen. Um Familienangehörige zu retten, habe man alles ausgegeben. In der englischen Botschaft habe sie englische Literatur gelesen. Auf diese Weise hätte sie ihre Englischkenntnisse verbessert. In Israel habe sie geheiratet und fünf Kindern das Leben geschenkt. Vor zehn Jahren sei ihr Mann gestorben. Sie wohne in Petach Tikva, was Tür der Hoffnung heiße nach Hosea 2,17. Als ihr jüngstes Kind in die höhere Schule gegangen sei, habe sie erneut mit dem Lernen begonnen und sei Touristenführerin geworden. Gott hätte es gut mit ihr gemeint, dass sie im Alter noch einen klaren Verstand habe und bei guter Gesundheit sei. Nur mit dem Hören gehe es nicht mehr so gut. Deshalb habe sie eine langjährige Liebesbeziehung zu ihrem Computer entwickelt, der es ermöglicht mit der ganzen Welt Kontakt zu halten. Sie lobt die neue Technik: „Bei Google findest du heute alles“ und „Gott segne das Internet!“

Ihr Vater hätte sich ebenfalls um eine Ausreise bemüht, aber sie sei ihm verwehrt worden. Deswegen sei er nach Schweden gegangen, wo sein Sohn bereits als Rabbiner tätig war Dort sei er 1944 und ihre Mutter 1947 verstorben. Sie habe einmal ihre Gräber besucht.

Ihr Bruder hätte bereits 1931 erkannt, was kommen würde.

Ihr Bruder, der Rabbiner von Malmö, hätte eine hohe Auszeichnung des dänischen Königs erhalten, weil er an der Rettung der dänischen Juden nach Schweden maßgeblich beteiligt war. Er hätte eher unauffällig gearbeitet. Später sei er nach Holland ausgewandert, sei dort gestorben. Auch die niederländische Königin hätte ihn ausgezeichnet.

Sie selbst habe erst wieder Deutsch geschrieben, als sie das KZ Theresienstadt aufsuchte. Dort sei der Vater ihres Ehemannes und ermordet worden. Ihre dort entstandenen Texte sind Gedichte, die die Frage nach dem Warum der Verbrechen an den Juden als Anfrage an Gott themati-sieren.

Miriam Neumeier ist skeptisch, ob nicht die Neo-Nazis wieder Einfluss gewännen- in Deutschland. Ich setzte meine Hoffnung auf eine friedliche Zukunft dagegen, erkläre ihr die geistige Orientierung der heutigen Politik, der Schulen, der Presse, der Wissenschaft, erzähle von meiner Arbeit über viele Jahrzehnte und von unserem Verein Förderverein ehemalige Synagoge Könen e.V. und vom Mahnmal Trier (mahnmal-trier.de), das monatlich von fast tausend Bürgern aufgesucht wird- von Menschen aus der ganzen Welt. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Zweifel ein wenig zerstreuen, das Vergangene ungeschehen machen- aber das kann niemand. Wir tauschen Namen von Autoren aus, die ihre Erfahrungen zum Teil in Büchern veröffentlichten: Kerry Weinberg, die sie noch aus der Trierer Zeit kennt und ebenfalls Schülerin des AVG war, Ruth Klüger, deren Buch sie in Englisch gerade gelesen hat, Wolfgang Steinberg, den bekannten Symphoniker aus Tel Aviv, der wie sie aus Trier stammt, Alice Resseguie, geb. Goldstein, die heute in Eugene lebt.

Zwei ihrer Kinder seien einmal in Trier gewesen, sie selbst nicht. Sie habe ihrem Sohn über Handy gesagt, was er sich ansehen solle, so gut kennt sie ihre Geburtstadt noch heute. Sie führt auch mich mit Hilfe von Skype vom Hauptmarkt über die Sternstraße zum Domfreihof. Sie dirigiert mich links am Dom vorbei in die Windstraße, an deren Ende das Konviktsgebäude stünde, gestanden habe, immer noch steht, links weiter an der hohen Mauer des ehemaligen Gefängnisses entlang, halblinks in die Sichelstraße. Dort sei sie zur Schule gegangen. Das müsste ein Gebäude sein, das ehedem zum AVG gehörte, heute das Studienseminar für Gymnasien beherbergt. Heute sei sie zu alt, alleine reisen könne sie ohnehin nicht mehr und der teure Euro komme noch dazu. Doch sie hört es gern, von mir zu erfahren, was sich zur Geschichte der Juden von Trier alles getan hat.

Sie möchte wissen, ob ihr Name noch im Archiv des AVG vorhanden sei. Die Antwort fällt negativ aus. Sie erinnert sich, dass sie 1956 eine Zeugnisbescheinigung von ihrer alten Schule angefordert habe. Diese sei ihr auch nach Israel zugeschickt worden.